
Anders als erwartet, ist die Anzahl der Patienten bei der Weinheimer Suchtberatung durch die Corona-Pandemie nicht angestiegen. Dafür aber die Intensität der Problematiken. Das bedeutet, dass Patienten, die bereits wegen eines Suchtproblems in Behandlung waren oder immer noch sind, eine weitere Sucht zu der bereits vorhandenen entwickelt haben.
„Gerade in der Anfangszeit der Corona-Pandemie mussten wir uns auf das telefonische Angebot begrenzen. Das ist nicht nur uns schwergefallen, sondern auch den Patienten“, erinnert sich Paul Jöst. Die Begründung hierfür ist naheliegend. Denn Gespräche über Suchtproblematiken, ob es nun die eigenen oder die von Angehörigen sind, seien doch sehr intim, erklären die Berater. Am Telefon die eigene Situation zu schildern und das Gegenüber zu verstehen, ohne die Mimik und Gestik zu sehen, sei schwer.
Die Vermutung liegt daher nahe, dass ein fehlendes persönliches Gespräch wohl einige Neupatienten abgeschreckt habe. „Für unsere Patienten waren die fehlenden Gruppentreffen ein großes Problem, weshalb bei uns die Beratungsfrequenz in dieser Zeit anstieg“, beschreibt Jöst die Situation. Aktuell sind die Treffen wieder – unter den gegebenen Umständen – offen. Das bedeutet, dass auch hier die Hygiene- und Abstandsregeln zählen. Zudem darf sich nur eine begrenzte Anzahl an Personen in einem Raum aufhalten. Die regelmäßigen Treffen geben Halt und bieten soziale Kontakt, als Ausgleich für die mangelnde Aufmerksamkeit.
Inzwischen darf auch die Suchtberatung Weinheimer wieder Patienten mit vorheriger Terminvereinbarung empfangen. In den vergangenen Monaten war gerade im Bereich des Alkoholkonsums ein größerer Beratungsbedarf zu verzeichnen, sind sich die Berater einig. „Die Hemmschwelle schon früh am Tag Alkohol zu trinken, sank. Durch Isolation, Home-Office und eine zusätzliche Belastung durch die anwesende Familie, gab es Fälle, die nicht nur bei einem Glas Wein am Abend blieben. So meldete sich ein Familienvater, der plötzlich am Abend bei einer ganzen Flasche Wein war. Auch solche Fälle hatten wir“, erzählt Paul Jöst.
Neben der aktuellen Problematik blicken die Experten auch mit sorgenvollem Blick in die Zukunft. Denn die Toleranzentwicklung gegenüber stofflicher sowie auch nicht-stofflicher Substanzen wird immer größer. Paul Jöst:
„Wenn Kinder bereits Erfahrungen mit Medikamenten wie Ritalin haben, ist der Körper bereits eine beruhigende Substanz gewohnt.“
Sandra Rupp-Deibler ergänzt: „Hinzu kommt der psychologische Aspekt. Denn es wird der Eindruck vermittelt, dass man nur mit Medikamenten ‘funktioniert‘ und ‚gesellschaftsfähig’ ist. Oder wie ein Jugendlicher im Gespräch sagte ‘Ich bin nur dann okay, wenn ich meine Drops nehme.‘
Was die Berater in den kommenden Jahren erwarten wird, lässt sich zum momentanen Zeitpunkt nicht vorhersagen. Allerdings sind sich die Experten hier einig, dass durch den gesellschaftlichen Wandel andere Problematiken entstehen.
Dazu gehören auch die sogenannten Rasenmähereltern. Das sind Erziehungsberechtigte, die vor ihren Kindern herräumen und ihnen somit Entscheidungen und Konflikte abnehmen. Zur Begriffserklärung dienen den Beratern zwei Beispiele, um die Problematik besser zu verdeutlichen. In dem einen Fall dealte der Sohn mit Drogen, die Eltern erfuhren es und haben dem Nachwuchs das Geld angeboten, was er eigentlich durch den Verkauf erwirtschaftet hätte. Im Gegenzug sollte er mit dem Drogenverkauf aufhören.
Im zweiten Beispiel war die Tochter süchtig nach ihrem Smartphone. Die Mutter wollte ihr das Gerät abnehmen, woraufhin der Nachwuchs vor Wut tobte und die Mutter beleidigte. Sie gab ihr das Smartphone zurück. Die Begründung war „Wenn ich das durchziehe, dann hat sie mich nicht mehr lieb.“ Rasenmähereltern wollen für ihre Kinder also mehr der Kumpel, als der konsequente Erziehungsberechtigte zu sein. Die Folgen hiervon werden sich in naher Zukunft zeigen.
Neben der Erziehungsproblematik und den Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, wurden die Berater der Weinheimer Suchtberatung in diesem Jahr aber auch mit neuen Süchten konfrontiert. Steigende Zahlen beobachten sie dabei bei dem Thema Sexsucht. „Es ist ein Tabuthema, das aber inzwischen alle Altersgruppen betrifft. Ob im Jugendbereich oder bei den Erwachsenen“, erläutert Paul Jöst.
Der Reiz des Verbotenen
Als Grund vermuten die Gesprächspartner den falschen Umgang mit Langeweile sowie den Reiz des Verbotenen, aber auch eine Veränderung der Gesellschaft im Bereich der Erotikbranche. Martin Wetzel: „In meiner Jugendzeit blätterte man den Quelle-Katalog durch und schaute sich die Unterwäschemodels an. Heute ist im Internet sämtliche Art der Pornografie frei zugängig, für jeden und zu jeder Zeit.“ Gerade im Bereich der Prävention entwickelt sich dadurch bei Jugendlichen ein Sprachjargon, der den fragwürdigen Umgang mit dem anderen Geschlecht sowie der eigenen Sexualität bestätigt.
Begriffe wie „Drufftussi“ – ein Mädchen, dass sich kostenlos für Geschlechtsverkehr anbietet – sind bezeichnend hierfür. Katarzyna Wurzbach berichtet aber auch von Süchten, die für sie bisher neu waren. So erzählt sie von einer Romansucht, eine Flucht in eine andere Welt durch Bücher oder Geschichten. Spätestens hier stellt sich die Frage, woran man eine Sucht erkennen kann. Wurzbach: „Es gibt verschiedene Faktoren, an denen man eine Sucht erkennt. Einer davon ist der Kontrollverlust. Das heißt, dass die Person ihr Leben nicht mehr problemlos auf die Reihe bekommt.“ Sandra Rupp-Deibler ergänzt: „Ein weiterer Faktor ist die Toleranzentwicklung. Das bedeutet, dass die Menge – ob stofflich oder nicht stofflich – steigt. Die Höhe der Anfangsdosis genügt nicht mehr.“
Ein umfassender Begriff ist hier die Internetsucht oder auch die Sucht im Bereich der Neuen Medien. Social Media, Online-Spiele oder auch Online-Rollenspiele, in denen miteinander gechattet wird, oder die Smartphone-Abhängigkeit. Jöst zur momentanen Situation: „Wir haben Alkoholabhängige, die während der Pandemie aus Langeweile mit Online-Spielen angefangen haben. Hingegen haben einige Spielsüchtige, die bisher von den Automaten abhängig waren, das Spielen komplett eingestellt und sich keine Alternative gesucht.“ Auch hier spielt der Umgang mit der Langeweile eine Rolle. „Ohne die Gruppentreffen fehlte vielen Patienten der regelmäßige Austausch. Wir haben mit vielen telefoniert und ihnen Tipps gegeben, wie sie ihren Tagesablauf gestalten könnten“, berichtet Paul Jöst.
Das Problem mit der Langeweile betrifft aber nicht nur Erwachsene. Bereits Kindern wird zur Ablenkung ein Smartphone oder eine Spielekonsole in die Hand gegeben. Erwachsene vertreiben sich die Zeit mit Online-Spielen oder sie gehen shoppen. Die Kaufsucht ist eine Suchtform, von der meist Frauen betroffen sind.
Aber wie verhält sich im Allgemeinen die Aufteilung von Frauen und Männern bei den Patienten der Suchtberatung? Seit Bestehen der Suchtberatung 1979 wurden bis 2019 insgesamt 4462 Patienten betreut. Davon waren 3486 Männer und 1127 Frauen. Nun könnte man anhand dieser Zahlen ableiten, dass Frauen weniger von Süchten betroffen sind, als Männer. Hier widersprechen aber die Experten: „Die Sucht kann jeden betreffen. Die Art der Sucht und den persönlichen Umgang damit, gibt aber die Gesellschaft vor“, erklärt Jöst. Gemeint ist damit, dass zum Beispiel der Alkoholkonsum unter Männern angesehener ist, als unter Frauen.
„Ein Mann, der mit seinen Kumpels nicht mittrinkt, ist ein Loser. Eine Frau, die sich betrunken in der Öffentlichkeit zeigt, ist eine Schlampe“,
erklärt Wurzbach. Daher tendieren Frauen eher zu Medikamenten. „Bevorzugt sind dabei Beruhigungsschmerz oder Aufputschmittel. So, dass sie den Tag über problemlos und ohne Ausfälle funktionieren“, ergänzt die Beraterin. 2019 suchten insgesamt 386 Patienten bei der Suchtberatung Hilfe. Im Bereich der Alkoholsucht waren es 118 Männer und 43 Frauen. Bei Cannabis 85 Männer und nur 12 Frauen. Bei den Medikamenten waren es insgesamt 28 Personen. Darunter waren acht Frauen.
Von Sandra Kettenmann