Die Tierflüsterin

Remus macht seine Sache ganz gut. Der zehnjährige Rüde läuft brav auf dem Unterwasserlaufband, womit Gelenke geschont und Muskeln langsam wieder aufgebaut werden. Zur Belohnung erhält er von seinem Frauchen Leckerli. Sie ist überglücklich, dass ihr Hund wieder mit allen vier Beinen läuft und keines nachzieht. Denn im Mai hatte er einen Bandscheibenvorfall im Halsbereich. Da eine Operation erstmal nicht in Frage kam, probierte sie es mit Physiotherapie.

Die Behandlung schlug sofort an, was an einem speziellen Therapieplan liegt, den sich Vivien Sättele überlegt hat. Sie leitet seit Anfang 2018 eine eigene „tierische Heilpraxis“ in Großsachsen. Und das mit 24 Jahren.

Wie kam sie dazu? Und was liebt sie so sehr an ihrer Arbeit? Wir haben mit der heute 25-Jährigen über den mutigen Sprung in die Selbstständigkeit und ihre Therapieansätze gesprochen.

Eine eigene Praxis für Tier-Physiotherapie und -Chiropraktik zu eröffnen – und das mit gerade mal 24 Jahren – ist ein großer Schritt. Wie kam es dazu?

Als Tierphysiotherapeutin bleibt dir quasi nichts anderes übrig. Es gibt nämlich nur ganz selten die Möglichkeit, in einer Tierphysiotherapie-Praxis mit einzusteigen oder dort angestellt zu werden. In Mainz hätte ich die Möglichkeit zwar gehabt, und wenn es näher gewesen wäre, hätte ich das vielleicht sogar gemacht. Aber eigentlich träumte ich schon immer von einer eigenen Praxis. Und hier in der Umgebung gibt es davon nicht viele. Vereinzelt in Mannheim oder Heidelberg. Und eine in Weinheim. Aber dort gibt es beispielsweise kein Unterwasserlaufband. Außerdem war ich schon länger mit einer mobilen Praxis unterwegs. Und als ich dann Ende 2017 die Räume in Großsachsen mieten konnte, habe ich die Chance genutzt.

Hattest du dabei keine Bedenken?

Doch. Ich habe immer mal wieder gedacht: Hoffentlich lohnt sich die Investition auch. Das alles hat einen Haufen an Geld gekostet – mein ganzes Erspartes. Deswegen habe ich sehr gehofft, dass die Praxis läuft und angenommen wird. Und es hat sich ja Gott sei Dank gelohnt. Ich war froh, dass meine Familie hinter mir stand und immer noch steht und mich unterstützt. Sie hat immer gesagt, dass ich es schaffe. Mein Bruder und mein Vater haben zum Beispiel die Gras-Rampe gebaut, die hoch ans Unterwasserlaufband führt.


„Ich bin schon immer total tierverrückt und hatte auch schon immer Tiere.“

Und wann wusstest du, dass du auf jeden Fall etwas mit Tieren machen möchtest?

Es war einfach klar für mich, denn ich bin schon immer total tierverrückt und hatte auch schon immer Tiere. Zuerst eine Katze, dann einen Hund, dann wurde mir mit 10 Jahren der Traum von einem eigenen Pferd erfüllt. Mit 13 kam noch ein zweites Pferd hinzu. Der Umgang mit Tieren war einfach schon immer mein Ding. Als Kind wollte ich eigentlich Tierärztin werden. Dann wurde es zunächst die Tierarzthelferin. Ich bin super froh, dass ich diesen Weg gewählt und nicht Tiermedizin studiert habe. Ich wäre sonst sicherlich nicht so weit, wie ich es heute bin.

Und jetzt arbeitest du als Tierphysiotherapeutin… Ich wollte Tieren etwas Gutes tun und habe mich deswegen weiterentwickelt und eine zweite Ausbildung zur Tierphysiotherapeutin angehängt – berufsbegleitend von Ende 2013 bis Anfang 2016. Danach habe ich mich selbstständig gemacht und mobil angefangen. Damals bin ich zu den Kunden nach Hause gefahren, oder habe die Tiere beim Tierarzt behandelt. Nebenher habe ich weiter beim Tierarzt in Weinheim und bei einer Tierphysiotherapeutin in Mainz gearbeitet. Dort habe ich echt viel gelernt. 2016 habe ich dann noch die Ausbildung zur Tierchiropraktikerin gemacht – als Aufbau auf die Physiotherapie.


Hört sich nach viel Arbeit an.

Zu der Zeit habe ich bis zu 70 Stunden pro Woche gearbeitet. Das war ganz schon heavy. Dann habe ich überall etwas zurückgeschraubt, im Oktober 2018 in Mainz aufgehört und zum Jahreswechsel 2019 beim Tierarzt. Seither konzentriere ich mich komplett auf meine eigene Praxis.

Vivien behandelt acht bis elf Patienten am Tag, eine Sitzung kann zwischen 45 und 90 Minuten dauern. Termine sollten bis zu zwei Wochen vor dem gewünschten Datum ausgemacht werden. Anfangs öffnete sie ihre Praxis auch samstags, weil sie sonst – durch die Nebentätigkeiten bei Tierarzt und Tierphysiotherapeutin – den Anfragen nicht gerecht werden konnte. „Das war schon sehr viel, aber ich bin froh, dass die Praxis so gut läuft.“ Wenn die Terminlage so zufriedenstellend bleibt, kann sie sich vorstellen, eine weitere Therapeutin einzustellen, „die mir Arbeit abnimmt, sodass ich vielleicht mal früher als 20 Uhr Feierabend machen oder auch wieder samstags öffnen kann“. Solange das noch nicht spruchreif ist, „arbeite ich so viel, wie ich kann“.

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Was liebst du so sehr an deiner Arbeit?

Tiere lügen nicht. Sie zeigen dir direkt, wenn ihnen etwas gut oder weh tut. Sie verstellen sich nicht für mich. Andererseits kann man sie nicht fragen, sondern muss alles selbst rausfinden und beim Ertasten spüren. Außerdem liebe ich den Umgang mit Tieren und ich liebe es, dass ich ihnen helfen kann. Noch dazu lernt man sehr nette Tierbesitzer kennen, erzählt mit ihnen – ist manchmal auch ein bisschen Psychologin – und lernt sich kennen.

Welche Tiere können zu dir kommen?

Eigentlich alle, die Probleme mit ihrem Bewegungsapparat haben oder auch Sport- und Diensthunde sowie Sportpferde. Auch für Tier-Senioren ist die Physiotherapie eine Bereicherung. Sie bietet den Vierbeinern einen Ausgleich im Alltag, steigert die Lebensqualität und kann Folgeschäden mindern. Jedoch ist sie kein Ersatz für die allgemeine Tiermedizin: Sollte ein Hund plötzlich massive Probleme mit seinem Gangbild haben, rate ich häufig, zuerst einen Tierarzt aufzusuchen. Meist behandle ich Hunde, Pferde und Katzen. Ich hatte auch schon mal ein Kaninchen, das kommt aber ganz selten vor. Bei Esel, Ziege und so weiter würde ich nicht Nein sagen. Und bei Reptilien auch nicht. Aber hier hatte ich bisher noch keine Anfragen.

„Tiere lügen nicht. Sie zeigen dir direkt, wenn ihnen etwas gut oder weh tut.“

Mit welchen Tieren arbeitest du am liebsten zusammen?

Das kann ich so nicht sagen. Am meisten arbeite ich mit Hunden, deswegen freue ich mich auch mal auf Abwechslung, wenn zum Beispiel eine Katze kommt. Pferde finde ich ebenfalls toll. Erstens, weil man draußen an der frischen Luft ist und zweitens, weil es eine ganz andere Art von Arbeit ist. Aber es gibt kein Tier, das ich nicht gern behandle.

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Wenn sich jetzt auch jemand in diesem Bereich selbstständig machen möchte, was rätst du ihm?

Der Beruf ist nicht staatlich anerkannt, theoretisch kann ihn jeder machen und eine Praxis eröffnen. Genau das finde ich aber schwierig. Wer keine richtige Ausbildung hat, kann ja die Tiere nicht gut behandeln. Das kann sehr schnell schief gehen, da das Wissen nicht da ist. Wer sich selbstständig machen will, der muss natürlich erst einmal ein Gewerbe anmelden, sich privat versichern, lernen die Buchhaltung zu machen. Ein Steuerberater und eine gute Haftpflicht sind das A und O, denn man behandelt ja auch Pferde, die teilweise eine halbe Million Euro wert sind. Auch eine Berufsunfähigkeitsversicherung ist wichtig, da man selbstständig ist und auf sich selbst angewiesen ist.

Ich würde jedem raten, erst einmal mit einer mobilen Praxis anzufangen, um an Kundschaft zu kommen und um die Kosten niedrig zu halten. Weiterentwickeln kann man sich immer. Denn in einem Laden muss man Miete zahlen, egal ob Kunden da sind oder nicht. Ich habe mir beispielsweise nicht alle Therapiegeräte auf einmal gekauft, sondern immer nach und nach.

Angst vor den Tieren hat Vivien nicht – aber durchaus Respekt. Zwar liegen Maulkörbe bereit, doch einen benutzt hat sie noch nie. „Ich versuche es immer zuerst ohne und würde behaupten, dass ich die Situation durch meine jahrelange Arbeit mit Tieren gut einschätzen kann“, sagt Vivien. Bisher sei ihr auch noch nie etwas passiert.

Die Tiere freuen sich eher, wenn sie in die Praxis kommen – spätestens beim zweiten Besuch. „Klar gibt es Hunde, die knurren, wenn ihnen beim Abtasten eine Stelle unangenehm ist oder weh tut. Da muss ich auch aufpassen. Aber Angst hatte ich deswegen noch nie.“

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Denn für Vivien überwiegen deutlich die schönen Erlebnisse. Etwa, „wenn man sieht, dass es dem Tier durch die Therapie schon deutlich besser geht“, sagt Vivien. Gerade bei zuerst gelähmten Hunden sei es immer wieder ein kleines Wunder, wenn sie nach ein paar Wochen oder Monaten wieder gehen können. „Das sieht man nicht oft und deswegen sind das die besonderen Momente und tolle Erfolge.“

„Was dem Menschen guttut, tut auch den Tieren gut.“

Erfolge erzielt Vivien durch ihren Therapieplan, den sie je Patienten individuell zusammenstellt. „Was dem Menschen guttut, tut auch den Tieren gut“, sagt sie.

Doch ebenso gehören auch weniger schöne Erlebnisse zu ihrem Beruf dazu. Tiere sterben oder müssen eingeschläfert werden. Erst kürzlich hatte sie diesen Fall. Ein Labrador hatte einen Bandscheibenvorfall und wurde deswegen operiert. Er war schon über einen längeren Zeitraum gelähmt und trotz Physiotherapie wurde es nicht wesentlich besser. Die Nervenschädigung war zu groß. „Insgesamt war er neunmal bei mir, bis mir der Besitzer sagte, dass es heute das letzte Mal ist. Das war sehr traurig für mich. Man kennt Hund und Besitzer und leidet mit ihnen mit. Ich weiß ja selbst, wie schlimm es ist, wenn ein Tier stirbt.“

Was bietet Vivien Sättele in ihrer Tierischen Heilpraxis an?

Tierphysiotherapeutische und Chiropraktische Behandlungen, Unterwasserlaufband, Cranio-Sacrale-Therapie, Massage, NeuroStim-Behandlung, Manuelle Therapie, passive und aktive Bewegungsübungen, Lymphdrainage, Gerätetraining, Bewegungstherapie, therapeutischer Ultraschall, Magnetfeld-, Laser-, Elektrotherapie, Dorn-Breuss-Behandlung, Kinesio-Taping, Blutegeltherapie sowie Unterstützung beim Training von Sporthunden und -pferden.
Blutegel? Ja. Denn das ist eine ganz alte Therapieform, die auch in der Humanmedizin genutzt wird. „Ein Blutegel hat über 40 Enzyme im Speichel, die stark schmerzlindernd, durchblutungsfördernd, entzündungs- und gerinnungshemmend wirken“, erzählt Vivien. Sie regen den Lymphabfluss an „und haben keine Nebenwirkungen wie es etwa Medikamente haben“. Der Biss sei nicht schmerzhaft, fühle sich an wie ein kleiner Nadelstich. „Diese Therapie eignet sich gerade bei Gelenksentzündungen, schlecht heilenden Wunden, bei schmerzhaften Prozessen, wie zum Beispiel Bandscheibenproblematiken und vieles mehr.“


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Zur Person:

  • Vivien Sättele, Jahrgang 1993, kommt aus Großsachsen und ging auf das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Weinheim.
  • Von 2010 bis 2013 absolvierte sie eine Ausbildung zur tiermedizinischen Fachangestellten.
  • Von 2013 bis 2016 folgte eine Ausbildung zur veterinärmedizinischen Physiotherapeutin an der Akademie für Tiernaturheilkunde-ATM. Eine Weiterbildung zur Tierchiropraktikerin schloss sich an.
  • Währenddessen arbeitete sie bei einem Tierarzt in Weinheim sowie bei einer Tierphysiotherapeutin in Mainz und machte sich mit einer mobilen Praxis selbstständig.
  • Anfang 2018 eröffnete sie die „Tierische Heilpraxis“ in Großsachen.
  • Heute ist sie außerdem als freie Dozentin für die Akademie für Tierheilkunde tätig.
  • Kontakt: Vivien Sättele, Breitgasse 1, Großsachsen, E-Mail info@tierische-heilpraxis.de, Telefon 0174/19 33 721, Internet www.tierische-heilpraxis.de

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